R2.4 Forschung unter Weltraumbedingungen

Der Fachausschuss

Die Forschung unter Weltraumbedingungen nutzt den Zustand der Schwerelosigkeit für die Erforschung von physikalischen und biologischen Systemen. Ohne hydrostatischen Druck, Auftrieb, Sedimentation und natürliche Konvektion (durch Dichteunterschiede angetriebene Konvektion) können einzelne Phänomene besser beobachtet und isoliert werden. Der Zustand der Schwerelosigkeit entsteht, wenn während eines freien Falls keine weiteren Kräfte mehr wirken, wie zum Beispiel in einem Fallturm oder auf der ISS, die sich ebenfalls im freien Fall um die Erde bewegt.

Die Forschung dient dem besseren Verständnis physikalischer und biologischer Systeme auf der Erde und im Weltraum. Ebenso werden die Grundlagen für die zukünftige Exploration des Weltraums gelegt, bei der sowohl lange schwerelose Phasen als auch die Gravitation auf Mond und Mars zu berücksichtigen sind.

Aktuelle Themen

Physikalische Wissenschaften

Bei der physikalischen Forschung in Schwerelosigkeit werden gravitationsabhängige Effekte in den Bereichen Material-, Fluid-, Verbrennungs- und Fundamentalphysik untersucht. Die Ziele sind die Untersuchung von grundlegenden Naturgesetzen, die Verbesserung von Materialien und Produktionsverfahren auf Erde sowie die Vorbereitung auf die Exploration des Weltalls.

Materialphysik

Etwa 90 Prozent der metallischen und halbleitenden Werkstoffe entspringen schmelzmetallurgischen Verfahren. Um Technologien zu optimieren oder neue zu entwickeln, ist ein großes Detailverständnis aller ablaufenden Prozesse notwendig. Ein Materialdesign aus der Schmelze erfordert heutzutage effiziente Computersimulationen, damit energie- und zeitaufwendige Vorversuche im großtechnischen Maßstab reduziert werden können. Durch schwerelose Experimentbedingungen werden beispielsweise konvektive Störkräfte bei der Erstarrung einer Schmelze ausgeschaltet. Das sind entscheidende Vorteile, um die Wechselbeziehung zwischen Erstarrungsbedingungen, Werkstoffgefüge und resultierenden Eigenschaften aufzuklären. Ein weiterer Vorteil ist es, die thermophysikalischen Eigenschaften reaktiver Metallschmelzen durch behälterfreies Prozessieren wesentlich genauer messen zu können. Auf diese Weise lässt sich die Qualität numerischer Simulationen von industriellen Gießprozessen entscheidend steigern, da die Eigenschaftsdaten signifikant in die Modellierung eingehen. Die Forschungsarbeiten erfolgen meist an Bord der ISS und vorwiegend an industrierelevanten Schmelzen im Verbund mit der Industrie.

Fluidphysik

Die Physik der Flüssigkeiten und Gase durchdringt viele Anwendungsbereiche, in denen die Wirkung der Schwerkraft dominiert. Ein Beispiel ist das inzwischen abgeschlossene Experiment CCF (Capillary Channel Flow) an Bord der ISS. Hierbei wurden Flüssigkeitsströmungen in speziellen Geometrien untersucht (CCF), die beispielsweise in Treibstofftanks den Flüssigkeitstransport nur durch Kapillarkräfte ermöglichen sollen. Bei der Zündung eines Triebwerks muss zu jedem Zeitpunkt ausreichend Treibstoff am Tankauslass vorhanden sein. Folglich sind schwerelose Experimente notwendig, um die Grenzen der Strömungsgeschwindigkeit zu ermitteln, bevor die Strömung abreißt.

Verbrennungsphysik

Anhand der Verbrennung von Tropfen und Sprays werden Zündmechanismen aufgeklärt, um Prozessmodelle zur Hochdruckverbrennung flüssiger Treibstoffe zu verbessern. Das Ziel ist es, in stationären Gasturbinen und Flugantrieben bei hohem Wirkungsgrad gleichzeitig den Schadstoffausstoß durch möglichst magere Kraftstoffgemische zu senken. Schwerelosigkeit hilft, die Basismechanismen der Verbrennung ungestört zu erforschen. Der Fallturm Bremen ist aufgrund seiner modernen laserdiagnostischen Verfahren für derartige Experimente besonders geeignet.

Fundamentalphysik

Bei der Fundamantalphysik geht es um ein besseres Verständnis physikalischer Phänomene. Dazu gehört der Effekt, Gasatome soweit abzukühlen, dass diese ihre Individualität verlieren und als Materiewelle in Erscheinung treten. Deutschen Wissenschaftlern gelang es erstmalig im Fallturm Bremen, derart ultrakalte Atome (Bose-Einstein-Kondensate, BEC) unter Schwerelosigkeit zu erzeugen und zu manipulieren. Hieraus ergeben sich einzigartige Möglichkeiten, die Grundgesetze der Physik von der Quanten- bis zur Relativitätstheorie mit bisher unerreichter Präzision zu überprüfen. Ein zweites wichtiges Forschungsfeld stützt sich auf die Entdeckung der Plasmakristalle durch deutsche Wissenschaftler im Jahr 1994. Mit Partikeln angereicherte Plasmen, die eine kristalline Struktur annehmen können, treten häufig in der Natur (Saturnringe, Kometenschweif) und terrestrischen Plasmatechnologien (Chipherstellung, Solarzellenfertigung) auf. Schon lange werden sogenannte komplexe Plasmen auf der ISS erforscht. Fundamentale Wechselwirkungen fester und flüssiger Partikel werden auch mit einem anderen Ziel verfolgt, nämlich um elementare Vorgänge bei der Planetenentstehung  sowie bei der atmosphärischen Wolkenbildung zu simulieren.

Biowissenschaften (Life Sciences)

Die wesentlichen Forschungsziele im Bereich Biowissenschaften sind die Erforschung der Natur, die Verbesserung der Gesundheit und die Voraussetzungen für Explorationen zu schaffen.

Natur

Die Schwerkraft bestimmt das Leben auf der Erde. Alle Vorgänge laufen auf unserem Heimatplaneten unter dem Einfluss von Gravitation ab. Deswegen lässt sich deren Bedeutung für viele Funktionen des Lebens nur in Schwerelosigkeit erforschen. Dabei beobachten die Wissenschaftler, wie Zellen und Organismen reagieren und wie biologische Vorgänge unter diesen Bedingungen ablaufen. Bei normalen Schwerkraftbedingungen auf der Erde wachsen Pflanzenwurzeln immer in Richtung Erdmittelpunkt, Sprossen dagegen zum Licht. Aus den Weltraumexperimenten gewinnen die Forscher Erkenntnisse über die Mechanismen, mit denen Organismen – seien es Einzeller oder Menschen – die Schwerkraft wahrnehmen und auf sie reagieren. Diese Erkenntnisse sind nicht nur für die Grundlagenforschung von großer Bedeutung. Auch bei bestimmten biotechnologischen Vorgängen macht man sie sich zunutze. Weltraumexperimente helfen zudem, die Entstehung, Verbreitung und Entwicklung des Lebens auf unserem Heimatplaneten besser zu verstehen. Neben der Schwerelosigkeit ist das Strahlenfeld des erdnahen Weltraums ein weiterer Faktor, den es zu untersuchen gilt, um Risiken für astronautische Missionen zu minimieren.

Gesundheit

Die Forschung in Schwerelosigkeit ist von besonderem Interesse für die Medizin. Innerhalb weniger Wochen machen Astronauten im All körperliche Veränderungen durch, die mit dem Alterungsprozess des Menschen sehr gut vergleichbar sind. Veränderungen bei den Astronauten sind reversibel, sodass auch die Rückanpassung an die Schwerkraft untersucht werden kann. Insbesondere das Zusammenspiel der verschiedenen Systeme wie Muskeln, Knochen, Herz-Kreislauf-, Gleichgewichts- und Immunsystem wird dabei untersucht. Dieses Wissen fließt in die Diagnostik und Therapie kranker Menschen ein, trägt aber auch zur Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Menschen in einer alternden Gesellschaft bei. So führte Forschung unter Weltraumbedingungen bereits zu neuen Trainingsmethoden, zu Therapien für die Behandlung von Osteoporose oder zu Instrumenten zur Messung des Augeninnendrucks und der Augenbewegungen beispielsweise bei der Schielanalyse.

Exploration

Die biowissenschaftliche Forschung im Weltraum ist unverzichtbar, wenn es um exploratorische Missionen zu Mond, Mars oder anderen fernen Zielen geht. Erhaltung der psychischen und körperlichen Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Astronauten über lange Zeiträume ist ein wichtiges Thema. Das andere ist die Entwicklung von biologischen oder gemischt biologisch-physikalisch/chemischen Lebenserhaltungssystemen.

Möglichkeiten zur Forschung in Schwerelosigkeit

  • Die Internationale Raumstation ISS (Langzeitexperimente über Monate)
  • Russische Wiedereintrittskapseln BION und FOTON (mehrere Wochen)
  • Suborbitale Raketenflüge (MAXUS, TEXUS, MASER) (zwölf Minuten Schwerelosigkeit)
  • Parabelflüge zur Erzeugung der Schwerelosigkeit als auch für Mond- und Marsgravitation (ca. 25 Sekunden pro Parabel und bis zu 30 Wiederholungen pro Flugtag)
  • Fallturm Bremen (fünf Sekunden im freien Fall oder neun Sekunden im Katapultbetrieb, mehrere Wiederholungen pro Tag)

Literatur und Links

Literatur:

  • B. Feuerbacher, H. Stoewer(2006): Utilization of Space. Springer, Berlin, Heidelberg.
  • Edited by R. Monti, Taylor and Francis (2001): Physics of Fluids in Microgravity. London and New York.
  • G. Seibert et al., edited by B. Fitton and B. Battrick (2001): A World without Gravity. European Space Agency, SP-1251.
  • Microgravity Science and Technology. An International Journal for Microgravity and Space Exploration. Springer Verlag. Unter: http://www.springer.com/astronomy/space+exploration/journal/12217

Links:

  • Raumfahrtmanagement des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR): www.dlr.de/rd/
  • Europäische Weltraumorganisation ESA: www.esa.int
  • ESA-Datenbank für Experimente unter Schwerelosigkeit: eea.spacefligth.esa.int
  • Amerikanische Luft- und Raumfahrtbehörde: www.nasa.gov
  • NASA-Datenbank für Experimente auf der ISS: issresearchproject.nasa.gov

Kontakt

Dr. Peter Gräf

Dr. Peter Gräf
Stellvertr. Leitung

Deutsches Zentrum für Luft- u. Raumfahrt (DLR)
Raumfahrtmanagement, Forschung unter Weltraumbedingungen
Königswinterer Str. 522-524
53227 Bonn

Tel.: 0228 / 47373
E-Mail: peter.graef(at)dlr.de