Die Bedeutung europäischer Raumfahrtforschung: Prof. Dr. Thomas Zurbuchen im Interview
Von Oktober 2016 bis Ende 2022 war Thomas Zurbuchen Wissenschaftsdirektor der NASA. Im Sommer 2023 übernahm der gebürtige Schweizer und Astrophysiker als Professor für Weltraumwissenschaft und -technologie die Leitung von ETH Zürich Space. Im Gespräch mit der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt (DGLR) gibt er spannende Einsichten in die europäisch-amerikanische Zusammenarbeit und die Stärken europäischer Weltraumforschung.
Was fasziniert Sie an der Raumfahrt?
Prof. Dr. Thomas Zurbuchen: Die Raumfahrt ist wie kaum eine andere Forschungsrichtung, denn hier geht es darum, Grenzen zu sprengen. Mit jedem Launch überwinden wir die Gravitation, eine Grenze, die die Menschheit Jahrtausende lang zurückgehalten hat. Damit ist für mich die Raumfahrt wirklich eine Tür zur Weite, mit der wir Grenzen hinter uns lassen und sich neue Welten auftun.
Fühlen Sie sich manchmal klein, wenn Sie an den Weltraum denken?
Natürlich kann man sich darauf konzentrieren, wie groß das Universum ist. Und mittlerweile wissen wir, dass es viel größer ist, als wir je dachten. Es liegt also sehr nahe, sich als sehr klein zu empfinden. Aber meine Ansicht ist eine ganz andere: Wenn man ein Fisch wäre und die Wahl hätte, in einem kleinen Aquarium mit sichtbaren Grenzen zu wohnen, wo man jeden Stein, jede Pflanze kennt, oder in einem großen Ozean mit vielem Unbekanntem – was würden Sie wählen? Ich würde natürlich den Ozean wählen. Wir sind zwar nur ein sehr kleiner Teil des Universums, aber gleichzeitig sind wir Teil von etwas unglaublich Großem – und darin liegt eine gewisse Schönheit.
Sie waren von 2016 bis 2022 Wissenschaftsdirektor der NASA, haben ein Forschungsbudget von fast acht Milliarden Dollar verwaltet und haben die mitunter klügsten Köpfe der Raumfahrt zu einem Team geformt. Was haben Sie gelernt in Ihrer Zeit als Wissenschaftsdirektor der NASA?
Was mich sehr optimistisch gemacht hat und immer noch optimistisch macht, ist die Tatsache, dass Menschen fast Unmögliches erreichen können, wenn sie zusammenkommen und gemeinsam einen Zweck erfüllen wollen. Außerdem habe ich gelernt, dass zwar jeder Mensch Fehler hat, aber Teams perfekt sein können und wirklich keine Fehler machen. Zu guter Letzt habe ich erfahren, wie unglaublich schön und unaussprechlich überraschend das Universum ist. Also angefangen mit der Beobachtung unseres eigenen Planeten – der schönste Planet, den wir im ganzen Universum kennen, bis zum tiefsten Universum. Egal wo man hinsieht, warten unglaubliche Überraschungen auf einen.
Welches Ereignis ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben aus dieser Zeit?
Wenn ich nur eines sagen kann, dann ist es wahrscheinlich für mich das erste Mal, als ich einen Datensatz vom James–Webb- Teleskop gesehen habe. Bevor das öffentlich wurde, haben diese Daten vielleicht etwas weniger als ein Dutzend Menschen gesehen und ich war einer davon. Das war ein unglaublicher Moment. So muss sich auch Galileo gefühlt haben, als er zum Ersten Mal den Jupiter angesehen hat und gemerkt hat, dass da ganze Welten sind. Wir haben das Universum zum ersten Mal neu gesehen, mit all diesen überraschenden Strukturen und dieser Tiefe. Natürlich war es auch ein Moment großer Erleichterung, als wir wussten, dass es funktioniert. Danach würde übrigens als zweites Ereignis die Landung auf dem Mars kommen.
Welche Risiken und welche Chancen bietet die neue US-amerikanische Regierung unter Präsident Donald Trump für die europäisch-amerikanische Zusammenarbeit in der Weltraumforschung?
Das lässt sich aktuell schwer vorhersagen. Tatsache ist, dass dieser Präsident unglaublich begeistert ist vom Weltraum. Er sieht darin einen Bereich, in dem Amerika führen kann. Was das aber genau für die NASA heisst, lässt sich aktuell noch nicht abschätzen. Es gibt aber sicher einige Dinge, die sich bei der NASA ändern müssen. Die NASA, wie auch viele ältere und große Organisationen, ist bürokratisch und oft auch unnötigerweise bürokratisch. Trump könnte in diesem Bereich etwas zu tun. Was das alles für Europa bedeutet ist auch schwer vorherzusehen, da wir nicht so recht wissen, wo der amerikanische Weg hingeht. Werden zum Beispiel Partnerschaften weniger wichtig als sie momentan sind? Das muss sich zeigen. Trump, den wir heute als Präsident haben, ist ein anderer Trump, als der von vor vier Jahren.
2023 sind Sie zurück in die Schweiz gegangen und haben dort die Leitung der Initiative ETH Zürich Space übernommen, um die Weltraumforschung und –lehre an der ETH Zürich weiter voranzubringen. Was hat Sie an der Stelle gereizt?
Vor der NASA habe ich ja bereits Jahrzehnte an Universitäten und in Innovationsprogrammen in Amerika gearbeitet. Ich hatte das Gefühl, ich kann etwas lernen, wenn ich nach Europa komme und probiere, das anzuwenden, was ich gelernt habe. Es gab in der Schweiz bis dahin keinen Ausbildungsgang mit Raumfahrt und ich bin der Meinung „Space is for everyone“. Alle sollten die Möglichkeiten haben, sich in der Raumfahrt zu engagieren, insbesondere auch, weil es so wichtig für die Erde und den Fortschritt der Gesellschaft ist.
Sie selbst haben in Bern studiert und promoviert und sind dann an die Universität Michigan gewechselt. Was unterscheidet die universitäre Forschung in den USA von der Forschung in der Schweiz bzw. an europäischen Universitäten?
Es ist unglaublich schwierig, das zu verallgemeinern, weil es in Europa so viele Modelle gibt. Aber ich würde mal einen Vergleich der University of Michigan mit der ETH Zürich wagen, weil ich an beiden davon gearbeitet habe. An der University of Michigan wurde ich von der Universität nach dem Start im Wesentlichen für neun Monate des Jahres bezahlt und das war’s. Den Rest der Finanzierung habe ich öffentlich im Wettbewerb gewonnen, also von der Regierung, und von Firmen. Das amerikanische System ist sehr kompetitiv. An der ETH als Professor bekomme ich genügend Geld für mich, zwei bis drei Ange- stellte sowie einen Doktoranden oder eine Doktorandin und eben auch Support für Laborarbeit – und zwar für das ganze Jahr. Natürlich kann ich auch zusätzlich Geld einwerben. Im amerikanischen System überleben nur die Kompetitiven, die anderen nicht. Das europäische System hin- gegen setzt auf Stabilität. Beide Systeme haben dabei natürlich ihre Vor- und Nach- teile: Als Beispiel ist eine Stärke von Europa die Klimamissionen. Diese sind hier einfacher zu verkaufen als in den USA. Messungen über Jahrzehnte zu machen, obwohl sie wichtig sind, klingt für viele Amerikaner sehr langweilig. Dort ist es viel einfacher, eine neue innovative Space- Mission zu verkaufen. Daher ist es sehr wichtig, zusammenzuarbeiten, um die Stärken beider Seiten nach vorn zu bringen.
Mit welchen Herausforderungen hat die Raumfahrtforschung in Europa zu kämpfen?
Das Erste, was man berücksichtigen muss, ist, dass die Investitionen in den Weltraum in Europa viel kleiner sind als in den USA. Und um ehrlich zu sein: Das sieht man und das merkt man. Zum Beispiel an der ganze Raumfahrtbranche in Europa, die viel kleiner ist. Ich verstehe dabei nicht, warum Europa das Investment in den Weltraum als weniger wichtig ansieht als Amerika. Die zweite Herausforderung in Europa ist, dass Teilmärkte weiterhin getrennt voneinander sind. Eine französische Firma hat nicht immer die gleichen Möglichkeiten, in Deutschland oder in der Schweiz zu verkaufen und umgekehrt. Noch sichtbarer ist es hier in der Schweiz, weil sie nicht in der EU ist. Richtig kompliziert wird es, wenn es wie in der Raumfahrt auch um nationale Interessen und nationales Recht geht. Bürokratie macht hier allen das Leben schwer. Das bringt Europa weiterhin nach hinten, weil es den Fortschritt und die Agilität hemmt. Zudem verlieren wir uns in Diskussionen um kleine Dinge, statt wichtige Diskussionen zu führen – warum zum Beispiel ist es im Interesse Europas als Wirtschaftsmacht, die Schweiz aus gewissen Programmen auszugrenzen? Es wird wichtig werden in Europa, sich da Gedanken zu machen, wie wir in Zukunft als Europäer und Europäerinnen im Weltraum agieren wollen. Welche Rolle wollen wir gegenüber den USA und China einnehmen, die einen unglaublichen Fortschritt machen?
Wo sehen Sie die Stärke europäischer Raumfahrtforschung?
Europas Stärke ist die Diversität: Von ganz im Süden in Italien bis in den Norden nach Schweden oder Norwegen – egal, wo man hinschaut, gibt es eine große Anzahl an innovativen und kreativen Programmen in der Raumfahrt, auch im universitären Bereich. Dazu kommt, dass unglaublich viel Innovation in Europa passiert. Ein gutes Beispiel großartiger europäischer Forschung ist der Teilchenbeschleuniger CERN in der Schweiz. Er ist ein absolut europäisches Produkt und natürlich ohne Zweifel eines der besten auf der ganzen Erde. Solche Projekte brauchen aber Geduld und Zusammenarbeit und das kann Europa! Solche Dinge sollten auch im Weltraum möglich sein, wenn man wirklich zusammenarbeitet und gemeinsam führen will.
Seit Herbst 2024 gibt es einen neuen Master an der ETH Zürich: den Masterstudiengang Space-Systems. Warum wurde dieser eingeführt?
Die Studierenden wollen das seit langem und ich meine, man soll das tun, was die Studierenden auch wollen und was sie begeistert. Es gab schon unglaublich viele Projekte an der ETH Zürich, aber auch in der ganzen Schweiz, die mit Raumfahrt zu tun hatten, aber eben keinen eigenen Studiengang. Das haben wir jetzt geändert. Und wir tun das auch, weil die Raumfahrtindustrie auch in der Schweiz immer größer wird. Wir wollen damit Türen öffnen für Studierende, die in die Industrie gehen wollen – in der Schweiz, aber auch auf internationaler Ebene.
Was ist Ihre Vision für die Initiative ETH Zürich Space?
Wir wollen nicht nur die Studierenden ausbilden, sondern sie auch für Innovation begeistern. Wir wollen die Studierenden ermutigen, eigene Start-ups zu gründen oder sich bei jungen Firmen zu engagieren und nicht nur bei großen Unternehmen oder Raumfahrtagenturen. Meine Vision ist es, die unternehmerische Energie in Europa zu stärken. Natürlich gibt es bereits eine gute Start-up-Szene in Europa, aber wir können noch mehr. In der Forschung möchten wir uns an den Lösungen für die vielen Probleme beteiligen, die wir aus dem Weltraum lösen müssen und sollen. Dafür wollen wir Möglichkeiten und Infrastrukturen für die Forscherinnen und Forscher an der ETH und anderswo in der Schweiz schaffen.
Sowohl an der ETH Zürich mit Aris als auch an vielen deutschen Universitäten gibt es studentische Nachwuchsgruppen der Luft- und Raumfahrt. Welche Bedeutung haben diese studentischen Vereine für die Zukunft der Raumfahrt?
Wenn man kann, sollte man die Studierenden machen lassen und ihnen die Möglichkeit verschaffen, selbst Experimente durchzuführen und neue Dinge auszuprobieren. Es ist vielleicht eine etwas amerikanische Sichtweise, aber wenn man als innovatives Unternehmen junge Talente sucht und sich fragt, wo man diese finden könnte, dann ist die Antwort einfach: in diesen Studentengruppen! Das sind Teams, die wirklich hart arbeiten und hochmotiviert sind. Zudem haben sie bereits Erfahrung, eigene und zum Teil sehr große Projekte umzusetzen, sich im Team zu organisieren und ihre Ressourcen im Blick zu behalten. Diese studentischen Gruppen sind in Universitäten oft die unternehmerischen Leute mit Ideen für die Zukunft. Deshalb ist es wichtig, sie zu unterstützen und zu tragen, nicht nur von der Universität, sondern auch von der Industrie.
Was würden Sie den Studierenden mit auf dem Weg geben?
Die Teams, die gute Ideen haben, die können wirklich Unglaubliches leisten. Ich möchte ihnen mit auf den Weg geben, dass sie Mut haben sollen. Man kann nicht die Gesetze der Physik ändern, aber mutige Dinge tun. Man lernt unglaublich viel davon. Es braucht viel Einsatz und es braucht Durchhaltevermögen. Mir macht Sorgen, dass die studentischen Gruppen sehr viel Energie für Bürokratie und Dokumentation brauchen, fast wie bei einer kleinen ESA oder einer kleinen NASA. Das würde ich anders handhaben. Ich würde nur die Dinge tun, die wirklich nützlich sind für den Erfolg. Kurzum: Seid ungeduldig genug, die Dinge aufzugeben, die nicht wichtig sind für den Erfolg, seid mutig, unkonventionelle Dinge zu tun und passt euch nicht an, sondern sucht euch euren eigenen Weg!
Was würden Sie sich für die Zukunft der europäischen Weltraumforschung wünschen?
Ich hoffe, dass die Bürger und Bürgerinnen Europas trotz der aktuellen geopolitischen Lage entscheiden , in den Weltraum zu investieren. Dabei meine ich nicht nur die staatlichen Organe, sondern auch die Unternehmen. Die Weltraumforschung hilft nicht nur unserem Verständnis der Erde, sondern auch unserer Sicherheit und unserer Gesellschaft. Und da möchte ich mithelfen und das wirklich vorwärts bringen. Die Welt braucht Europa. Europa als starke Kraft auf der Erde. Dabei ist Europa nicht irgendein Klub europäischer Länder, die aneinander angrenzen, sondern Europa ist ein Raum, in dem Menschen zusammenkommen und fragen: Was ist wichtig, wie können wir unseren Beitrag dazu leisten und wie können wir es gemeinsam umsetzen – um dann gemeinsam zu handeln. •
Das Interview führte Nicole Kretschmer, Chefredakteurin des DGLR-Mitgliedermagazins.
ZUR PERSON
Dr. Thomas Zurbuchen ist Astrophysiker und seit Sommer 2023 Professor für Weltraumwissenschaft und -technologie an der ETH Zürich. Hier hat er auch die Leitung von ETH Zürich Space inne. Von Oktober 2016 bis Ende 2022 war der gebürtige Schweizer Wissenschaftsdirektor der NASA. Zuvor war er außerordentlicher Professor für Weltraumforschung und Raumfahrttechnik an der University of Michigan und außerordentlicher Dekan am College of Engineering.