08.12.2022 - Allgemein, DGLR, DGLR Intern, Presse, Raumfahrt

Die ESA-Ministerratskonferenz aus deutscher Sicht – Eine Einordnung von DGLR-Senator Prof. Dr. Kai-Uwe Schrogl

Am 22. und 23. November 2022 wurden in Paris die Weichen für die europäische Raumfahrt der nächsten Jahre gestellt. Die Ministerratskonferenz der Europäischen Weltraumorganisation ESA war ein Erfolg: Die 22 Mitgliedstaaten, vier assoziierten Staaten und das kooperierende Mitglied Kanada zeigten mit einer Zeichnung von 16,9 Milliarden Euro, 17 Prozent mehr als noch 2019, dass die Raumfahrt in Europa einen steigenden Stellenwert einnimmt. Mit dabei war auch Prof. Dr. Kai-Uwe Schrogl. Er ist Sonderbeauftragter des Generaldirektors für Politische Angelegenheiten der ESA und Mitglied im Senat der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt (DGLR). Auf der DGLR-Jahrestagung Anfang Dezember 2022 hielt er einen Vortrag über die diesjährige Ministerratskonferenz und ihre Auswirkungen auf die Raumfahrtbemühungen der nächsten Jahre – insbesondere aus deutscher Sicht.


Bild: ESA - S. Corvaja

Deutschland zeichnete 3,5 Milliarden Euro, die sich mit Inflationsausgleich während der nächsten drei Jahre auf vier Milliarden summieren könnten. Gemeinsam mit Frankreich (3,2 Milliarden) und Italien (3,1 Milliarden) stellt die Bundesrepublik damit den Großteil der gezeichneten Mittel. „Deutschland, Frankreich und Italien liegen hier inzwischen sehr nah beieinander“, so Schrogl. „Das ist gut so und wird zukünftig eine zunehmend gleichwertige Art der Zusammenarbeit zwischen den drei Staaten erfordern.“ Doch auch andere, mittlere und kleine Staaten haben ihre Beiträge drastisch und oft überproportional angehoben. Belgien zum Beispiel verzeichnet enorme Zuwächse und Estland hat sein Budget gar verdreifacht. „Aus Sicht der großen Beitragszahler muss klarer gewürdigt werden, dass niedrig erscheinende Millioneninvestitionen für viele Länder eine vergleichsweise große ökonomische und politische Anstrengung bedeuten.“

„Mit Blick auf die einzelnen Programme muss Deutschland insbesondere bei der Mondexploration eine neue Realität zur Kenntnis nehmen“, erklärt Schrogl. „Hier, wo sich Deutschland eigentlich immer als die treibende Nation gesehen hat, geht die Führung an Italien, das kurz zuvor noch mehr Geld in die Hand genommen hat, um die Programmführung beim EL3 zu erreichen.“ Damit wird der European Large Lunar Lander (Argonaut) jetzt unter italienischer Leitung entstehen. „Die Deutsche Raumfahrtagentur hat dabei aber eine gute Abstimmung mit  Italien vorgenommen, sodass einzelne Missionen auch unter deutscher Führung stattfinden werden.“ Italien führt auch beim Kommunikationssystem für den Mond (Moonlight) und beim Orbitalkomplex Gateway sowie bei dem Vorbereitungsprogramm Human Space Transportation. Deutschland bleibt hingegen beim European Space Module (ESM) in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Luft- und Raumfahrtbehörde NASA und beim Betrieb der Internationalen Raumstation ISS vorne. „Dabei ergibt sich eine neue Dreigliederung. Großbritannien konzentriert sich zusammen mit Frankreich auf den Mars, Italien auf den Mond und Deutschland auf den erdnahen Orbit. Daraus darf aber keine Versäulung entstehen, es muss vielmehr eine Gesamtdynamik für die astronautische und robotische Raumfahrt für Europa erwachsen“, so Schrogl.

Ein großes Thema auf der Ministerratskonferenz waren auch die Träger. Hier zeigen sich derzeit noch viele Unklarheiten. Das beweist auch der Erststart der Ariane 6, der, ursprünglich für 2020 geplant, aktuell für Ende 2023 angesetzt ist. Kurz vor der Ministerratskonferenz haben dazu Deutschland, Frankreich und Italien auf Ministerebene eine Vereinbarung unterzeichnet, die die Trägerfrage mit ihren vielen Facetten strukturiert bis 2024 bearbeiten und behandeln soll. „Diese Maßnahme soll einen Durchbruch während der nächsten Monate und des nächsten Jahres bringen und alle losen Enden zusammenzuführen“, sagt Schrogl. „Von Bedeutung werden hier auch zukünftig die Microlauncher sein. Sie werden insbesondere von Deutschland gefördert und auf europäischer Ebene gefordert. Zukünftig sollen sie dazu dienen, eine gute und gesunde Konkurrenz zwischen den Anbietern zu etablieren, die zu besseren, leistungsfähigeren und zielgerichteten Trägerdienstleistungen führen kann. Mit dieser Vereinbarung sind sie nunmehr auch für institutionelle Starts etabliert, was ein Ziel der deutschen Politik war.“

Ein etwas überraschendes Ergebnis hat die Erdbeobachtung eingefahren. Sie konnte nämlich leider nicht von den steigenden finanziellen Beteiligungen profitieren. „Trotz der vielen Bekenntnisse aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern, hat die Erdbeobachtung, die ja essenziell für den Klimaschutz ist, unterproportional abgeschnitten“, konstatiert Schrogl. Andere Programme haben dagegen einen enormen Aufwind erfahren – zum Beispiel der Bereich Kommerzialisierung, den die Mitgliedstaaten mit 100 Millionen Euro unterstützen wollen. „Aber noch viel wichtiger ist, dass der New-Space-Gedanke tatsächlich Einzug findet, dass die Mechanismen und die Instrumente überhaupt etabliert werden. Dazu hat diese Konferenz mehrere Initiativen gestartet und Bewährtes wie die ESA Business Incubation Centres noch weiter gestärkt.“ Das soll für den New-Space-Sektor in Europa und auch in Deutschland neuen Aufwind bringen.

Ein wichtiger Punkt für die ESA-Mitgliedstaaten war außerdem die Sicherheit. „Viele MinisterInnen haben in ihren Eingangsstatements zur Konferenz ein stärkeres Engagement in den Bereichen der Sicherheit gefordert“, erklärt Schrogl. Sicherheit hat viele Dimensionen, ob Sicherheit im Weltraum, durch den Weltraum oder Cyber-Sicherheit. „Die Mitgliedstaaten wünschen sich, dass die ESA trotz ihres zivilen und friedlichen Mandats hier verstärkt tätig wird. So deutlich ist das noch nie geworden. Dabei hat natürlich der russische Überfall auf die Ukraine eine wichtige Rolle gespielt.“

Auch die Nachhaltigkeit nahm bei der Ministerratskonferenz einen wichtigen Raum ein. Dazu zählen zum Beispiel eine Zero-Debris-Strategie und Debris Removal, also das Entfernen von einzelnen hochriskanten Objekten im Weltraum. Aber auch die Nachhaltigkeit auf der Erde war ein wichtiger Punkt, insbesondere unterstützt durch die Erdbeobachtung, aber auch durch andere Satellitenanwendungen, wie Navigation und Kommunikation, die dazu beitragen können, den Klimawandel zu stoppen, aufzuhalten beziehungsweise Treibhausgase zu reduzieren.

Neue Perspektiven gibt es auch. Die ESA will zukünftig wieder einen Versuch in der autonomen astronautischen Raumfahrt wagen. „Wir wollen die Lücke schließen, die durch den Verlust des Hermes-Programms in den 1990er-Jahren entstanden ist und die, politisch gewollt, bisher nicht gefüllt wurde“, erklärt Schrogl. Europa kann praktisch alle Raumfahrtaktivitäten autonom durchführen – außer den astronautischen Raumtransport. Die technischen Kenntnisse liegen in Europa vor, Vorschläge zur Umsetzung gibt es auch bereits. Ein Beispiel dafür ist Susie (Smart Upper Stage for Innovative Exploration) der ArianeGroup, die im Sommer ihr Konzept für eine neue Raketenspitze mit Platz für bis zu fünf Astronautinnen und Astronauten sowie Fracht vorstellte. „Amerika, Russland und China können bereits astronautisch ins All. Auch Indien ist auf dem Weg dahin. Damit liegt es auch in unserem Selbstverständnis als Hochtechnologieorganisation ein solches Projekt voranzutreiben.“ Dafür wurde von der ESA eine Beratergruppe mit Persönlichkeiten von außerhalb der Raumfahrt-Community eingerichtet, die ihren Bericht mit einem Aufruf zum Handeln im März 2023 vorlegen wird.

„Zusätzlich versucht der ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher die Stakeholderschaft der Raumfahrt zu erweitern. Dazu hat er Acceleratoren ausgerufen: Raumfahrt für eine grüne Zukunft, Raumfahrt für Resilienz und Raumfahrt für Sicherheit.“, erklärt Schrogl. Dabei ginge es nicht nur um die Anwendungen selbst, sondern auch um die Art und Weise, wie beigetragen und mitgewirkt werde. Hier ist bereits die nächste große Veranstaltung in Vorbereitung: Im November 2023 soll ein Space Summit auf Ebene der Staats- und Regierungsführungen stattfinden. „Deutschland als neuer ESA-Ratsvorsitz muss da ordentlich aktiv werden. Es gilt nicht nur, 2025 die nächste Ministerratskonferenz in Deutschland auszurichten, sondern auch immer wieder Initiativen zu starten und MinisterInnen zusammen zu bringen, um Probleme zu lösen. Ich glaube aber, so wie sich die deutschen VertreterInnen bei der Konferenz in Paris sehr erfolgreich gegeben haben, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass die Ansprüche nicht erfüllt werden. Minister Robert Habeck bei der Eröffnung der Konferenz, Anna Christmann als Sitzungsleiterin und Walther Pelzer als Verhandlungsführer haben Deutschland beeindruckend vertreten.“

Die an die Ministerratskonferenz anschließende Vorstellung der neuen Berufsastronautinnen und -astronauten fiel aus deutscher Sicht jedoch ein wenig enttäuschend aus. Unter den fünf neuen KarriereastronautInnen war niemand aus Deutschland dabei. Schrogl stellte fest, „dass Deutschland mit Amelie Schönenwald und Nicola Winter nunmehr zwei hochqualifizierte Reserveastronautinnen besitzt. Dennoch wäre eine erste deutsche Astronautin sehr schön gewesen. Für Politik und Gesellschaft in Deutschland ist das ja längst überfällig.“

„Insgesamt“, resümiert Schrogl, „wurde mit der außerordentlich hohen Zeichnung bei der Ministerratskonferenz deutlich, dass die Mitgliedstaaten das System der ESA sehr attraktiv finden, um die europäischen Raumfahrtaktivitäten gemeinsam voranzutreiben und ihre jeweiligen Anteile daran zielgerichtet aufbauen und festigen zu können. Gleichzeitig zeigt sich die ESA in ihren Beschaffungen und ihrem Management anpassungsfähig, um den Dynamiken im Raumfahrtsektor nicht nur zu folgen, sondern diese entscheidend zu gestalten.“

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